"Die Geschichte des Kirchenkreises Bochum im 19. Jahrhundert“

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"Die Geschichte des Kirchenkreises Bochum im 19. Jahrhundert“

Ein Gespräch mit dem renommierten Theologen und Historiker Professor Günter Brakelmann

Immer noch ein streitbarer Zeitgenosse: Der 87-jährige Theologe und Soziologe Günter Brakelmann hat umfangreiche Recherchen über das kirchliche Leben in Bochum im 19. Jahrhundert zusammengetragen. Foto: Frauke Haardt-Radzik

Der Evangelische Kirchenkreis Bochum wurde vor 200 Jahren gegründet. Professor Günter Brakelmann hat pünktlich zum Jubiläum sein jüngstes Buch veröffentlicht. Die „Geschichte des Kirchenkreises Bochum im 19. Jahrhundert" ist ein Studien- und Quellenbuch. Auf 552 Seiten sind die Verhandlungsprotokolle der Synode sowie ergänzende Presseberichte dargestellt. Mit dem streitbaren Theologen und Historiker sprach Frauke Haardt-Radzik.


Mit diesem dritten Werk Ihrer Trilogie zur Kirchengeschichte haben sie dem Bochumer Kirchenkreis ein einmaliges Geschenk gemacht. Wie sind Sie bei dieser umfangreichen Recherche vorgegangen?

Brakelmann: Die Bochumer Synodalgeschichte hat mich über die Jahre immer wieder beschäftigt. Ich habe für dieses Buch alle 94 Synodalprotokolle, die in Bielefeld liegen, durchgearbeitet. Etwa 2000 Seiten. Ich bin wohl als Erster überhaupt jahrgangsweise sämtliche Berichte durchgegangen. Dabei wurde deutlich, dass die Superintendenten immer das Entscheidende der Synode waren.

Nun lebten die Superintendenten und die Synode ja nicht im stillen Kämmerlein. Haben Sie bei ihren Recherchen Hinweise gefunden, inwieweit das normale Leben außerhalb der Kirchen Einfluss auf Entscheidungen der Synode hatte?

Brakelmann: Für mich gilt, keine Kirchengeschichte ohne gesellschaftlichen, politischen Kontext. Die wichtigsten Themen, die es in dem Jahrhundert gab, waren auch auf der Synode vorherrschend. Interessant ist zum Beispiel, dass die Pfarrer bis 1918 einen persönlichen Eid auf den Kaiser geleistet haben. Der Pastor, ob auf der Kanzel oder im persönlichen Gespräch mit Gemeindegliedern, war also gleichzeitig Seelsorger und Staatsbeamter.

Neben den Synodalprotokollen haben Sie im „Märkischen Sprecher“ eine sehr ergiebige Quelle gefunden. Die Zeitung für den Kreis Bochum erschien ab 1829. Vor allem fanden Sie hier Berichte über kirchliches Leben und Aktivitäten, die in den Synodalberichten überhaupt nicht erwähnt wurden. Beispielhaft dafür steht die intensive diakonische Arbeit der Evangelischen Frauenvereine.

Brakelmann: Ja, ab 1870/ 71 gab es den Evangelischen Frauenverein in der Altstadtgemeinde. Es waren allesamt bürgerliche Frauen, die sich den alltäglichen Problemen zuwandten. Es wurden Konzerte, Vorträge und Basare organisiert. Von dem dort eingenommenen Geld haben die Frauen Fachleute eingestellt. Etwa Diakonissen aus Bethel oder Kaiserswerth. Die Frauen haben Koch- und Nähschulen eingerichtet. Oder auch einen Besuchsdienst für Hochschwangere ins Leben gerufen. Die Frauen kamen, wenn die Leute starben, zuhause üblicherweise.

Damit waren diese Frauen Vorläufer der späteren Hospizvereine. Doch damit nicht genug, die Frauenvereine haben noch viel mehr vor Ort an diakonischer und sozialer Arbeit aufgebaut. Und das alles fand in den Synodalberichten keine Erwähnung?

Brakelmann: Nein. Aber die Zeitung, also der „Märkische Sprecher“ hat über das kirchliche Leben geschrieben, das nicht auf der Synode besprochen wurde. So haben die Frauenvereine auch ein Haus für junge Mädchen gebaut, in dem diese wohnen konnten, bis sie in geeignete Haushalte vermittelt wurden. Die Mädchen kamen am Bahnhof an und wurden dort oft von Fremden angesprochen und dann auch in Bordelle gebracht. Die Frauenvereine organisierten, dass die Mädchen in ihre Häuser kamen. Und eine wichtige Sache: Die Frauen haben in der Altstadt die ersten Kindergärten errichtet. Frauen, die mehrere Kinder hatten, waren froh, dass sie hier ihre Kinder unterbringen konnten. Familien, die ein bisschen Geld hatten, mussten dafür etwas bezahlen, die ganz Armen nichts.

Nun ließen sich all diese Projekte und umfangreichen Aktivitäten sicherlich nicht nur durch die Einnahmen aus Vorträgen und Konzerten finanzieren. Was haben Ihre Recherchen ergeben, wer hat all diese vielen sozialen Aufgaben finanziell unterstützt?

Brakelmann: Die reichen Ehemänner der Frauen, Zechenbesitzer und Firmen haben das nötige Geld gespendet. Damit wurden dann zum Beispiel Erzieherinnen aus anderen Städten geholt, um die Kindergärten aufzubauen. Über all diese Aktivitäten wurde in der lokalen Presse berichtet. Fand etwa ein Vortrag statt, konnte man darüber am nächsten Tag im „Märkischen Sprecher“ etwas lesen. Lediglich einige Gemeindepfarrer nahmen die großartigen Aktivitäten der Frauen wahr. Und obwohl die Frauen so viel für Bochum getan haben, ist nicht mal eine Straße nach Einer von ihnen benannt worden.

Die Synode war zu der Zeit mit ganz anderen Themen beschäftigt. Die Industrialisierung, aus Vororten wurden Städte. Die ersten Arbeiterstreiks kamen auf. Und ein immer wiederkehrendes Thema auf der Synode war die Frage nach dem Verfall der Sitten. Alles nachzulesen in Günter Brakelmanns Buch zur Geschichte des Kirchenkreises Bochum. Herr Brakelmann, vielen Dank für das Gespräch – und für das lesenswerte Buch.

Buchhinweis: Günter Brakelmann, Geschichte des Kirchenkreises Bochum im 19. Jahrhundert (1818-1912). Ein Studien- und Lesebuch, 2018, LIT-Verlag Münster, 552 S., 74,90 Euro


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